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Rundbrief August 2013

Wer ist mein Bruder?

Margarethe Randow-Tesch

»Die Hölle, das sind die anderen«, so lautet ein bekannter Satz aus dem Theaterstück »Geschlossene Gesellschaft« (Huis Clos), in dem der Autor und Philosoph Jean-Paul Sartre anhand von drei Personen, die sich nach ihrem Tod in der Hölle begegnen, die Ausweglosigkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen zeigt, in denen das schwache Aufkeimen von Solidarität (gemeinsamen Interessen) durch das Festhalten an getrennten Interessen (Bedürftigkeit, Urteilen und Angreifen) sabotiert wird.

Schon zu Anfang des Kurses steht der wertvolle Hinweis: »Gott wird nur zu dir kommen, wenn du ihn deinen Brüdern gibst. Lerne zuerst von ihnen, dann wirst du bereit sein, Gott zu hören« (T-4.VI.8:4-5).

Wer oder was ist Gott? »Ein Einssein, das als eins verbunden ist« (T-25.I.7:1) und das in der Welt nicht verstanden werden kann, heißt es im Kurs. Da die Ganzheit Gottes nur von »einem ganzen Geist [gewürdigt werden kann], der die Ganzheit der Schöpfung Gottes sieht« (T-6.II.1:2), müssen wir uns zuerst mit dem befassen, was wir zu verstehen meinen: der Welt mit den anderen.

Wer oder was sind wir und die anderen? Derselbe eine und ganze Geist. Nur in einem Traum der Besonderheit und Verschiedenheit, den wir als Geist träumen, scheint er in vielen Gestalten aufzutreten. Dort sehen wir andere und glauben, sie seien anders und getrennt. Wir ziehen diese Welt der Unterschiede, die unsere Sinneswahrnehmung uns zeigt, nicht in Zweifel. Wir glauben, dass unsere Augen sehen und unsere Finger die Wirklichkeit umschließen (Ü-I.151). Der Kurs holt uns bei dieser Erfahrung ab. Wir werden auch nicht gebeten, sie zu verleugnen. Wir werden jedoch gelehrt, dass diese Erfahrung nicht das ist, was sie zu sein vorgibt: eine Abbildung der Wirklichkeit. Und: Sie kann mithilfe der Vergebung dem Ziel dienen, die scheinbare verlorene Ganzheit des Geistes wiederherzustellen.

In einem Kommentar zu den Upanishaden, der hinduistischen Lehre von der Nichtdualität, die große Parallelen zum Kurs aufweist, schrieb der Indologe Heinrich Zimmer: »Wenn die eine innere Substanz aller Dinge im eigenen Innern erkannt ist, dann werden die verschiedenen Masken, die sie annimmt, transparent. Jedes Verstehen, jede Sympathie und jede Liebe beruht auf der wesenhaften Identität des Erkenners und des Erkannten. Hass entsteht nur aus der Illusion der Verschiedenheit« (Philosophie und Religion Indiens, Suhrkamp Verlag).

Diese Worte beschreiben das, was im Kurs die Schau Christi genannt wird: Die »eine innere Substanz aller Dinge« tritt hervor; die »verschiedenen Masken, die sie annimmt, werden transparent.« Unser Sehen mit den körperlichen Augen ist das genaue Gegenteil davon: Wir sehen die Maske – das Äußere, die Persona, den Körper, das Befinden und Verhalten –, die innere Substanz entgeht uns.

Wie können wir diese begrenzte Sicht ändern? Einfach indem wir verstehen, dass sie dem Zweck dient, die Falschgesinntheit des Ego in uns zu schützen, und dass dieser Zweck – unser Einverständnis und unsere große Bereitwilligkeit vorausgesetzt – geändert werden kann. Dazu ein Beispiel: Helen Schucman, die Psychologin, die den Kurs niederschrieb, erhielt einmal von Jesus folgende Botschaft über ihre schwierige Beziehung zu ihrem Kollegen und Freund Bill Thetford: »Ihr bemerkt nicht, wie sehr ihr einander hasst. Ihr werdet den Hass [das Ego] erst loswerden, wenn ihr ihn bemerkt, denn bis dahin werdet ihr glauben, dass ihr einander loswerden und den Hass [das Ego] behalten wollt« (Kenneth Wapnick, Jenseits der Glückseligkeit , Greuthof, 1999, S.339).

Den anderen loswerden und den Hass behalten ist in der Welt, die die Sinne uns zeigen, ein naheliegender, aber untauglicher Versuch, mit dem eigenen Schmerz fertigzuwerden. Wir praktizieren ihn alle. Hass – Ärger, die kleinste Gereiztheit –, kommt jedoch aus dem quälenden Egodenksystem der Verschiedenheit, von dem wir alle unbewusst angezogen sind und unter dem wir gleichzeitig leiden. Sprich: Er ist eine Projektion aus dem Innern und keine Reaktion auf das, was andere tun, so lieblos oder furchtbar es in der Welt auch sein mag. Es ist nicht leicht zu begreifen, dass ein Teil von uns andere auf einer unbewussten Ebene negativ haben will, damit wir »in aller Unschuld« sagen können: »Ich bin anders als du.« Wir müssen nicht gutheißen, was jemand tut, und sollten auf der Verhaltensebene angemessen reagieren. Der Fehler ist unsere Empörung. Sie verrät uns die Absicht, den Traum der Trennung und Unterschiede wahr zu machen. Wenn wir das mit ganz ruhigen Augen anschauen, beginnen wir, die wirkliche Alternative zu verstehen: Die Lösung ist, die Investition in das Denksystem aufzugeben, das Trennung und Empörung erzeugt, und aus dieser Geisteshaltung zu handeln. Wie könnten wir das besser tun, als andere für dieses selbe Denksystem nicht anzugreifen?

Am Ende von Sartres Drama öffnet sich unerwartet die Tür: Die Beteiligten stellen fest, dass sie immer frei waren und nur dachten, sie seien gefangen. Wir sind nicht als Körper frei, wir stecken in Rollen und Zusammenhängen, die Aufmerksamkeit fordern, »doch die Vergebung schaut über Körper hinweg« (B-4.5:3). Sie schaut auf den Geist, der zwischen Täuschung und Wahrheit wählt. In dieser Wahl sind wir frei und deshalb frei in unserer Betrachtung der Welt, die daraus folgt. Der mitfühlende Blick für unser gemeinsames Leiden in einem Leben der Besonderheit, in dem wir, wie Arthur Schopenhauer sagte, sowohl »gequälte Seelen« als auch »Teufel« füreinander sind, die Bereitwilligkeit, unser Denken über uns, andere und den Zweck unserer Beziehungen zueinander zu ändern – das ist im Eingangszitat mit Lernen gemeint –, bringt uns schließlich zum Ziel: »Das Antlitz Christi (Symbol der Vergebung) muss gesehen werden, bevor die Erinnerung an Gott zurückkehren kann« (H-3.4:1).

Und so wird der Sinn jeder Begegnung, der tausendmal und weitere tausend Male geübt werden muss, sich über das Schlachtfeld der Situation und der Emotionen zu erheben und das gemeinsame Interesse zu sehen, uns gegenseitig in der Angst beizustehen: »Sei einen Augenblick ganz still. Komm ohne jeglichen Gedanken dessen, was du je zuvor gelernt hast, und lege alle Bilder, die du machtest, weg« (T-31.II.8:1). Dieser Augenblick der Stille, in der das Andere in uns spricht, ist die Tür zur Freiheit. Dann – und nur dann – sehen wir im anderen unseren Bruder: eins mit uns im qualvollen Traum der Besonderheit, der Schuld und Angst, eins mit uns im Ruf nach Liebe und eins mit uns in der Wahrheit der Unschuld. Bevor wir urteilen, könnten wir innehalten und uns erinnern: »Die Antwort, die ich meinem Bruder gebe, ist das, worum ich bitte. Und was ich lerne über ihn, ist, was ich über mich selbst lerne« (T-31.II.6:2-3).

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